Dezember 16, 2023
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„The Good Life“ oder: Wie Beziehungen in unsere Körper kriechen

Anfang 2023 erschien ein ganz besonderes Buch "The Good Life" von Robert Waldinger und Marc Schulz. Ein Buch darüber, was ein erfüllendes und glückliches Leben ausmacht. Es ist allerdings kein subjektives Ratgeberbuch, sondern etwas ganz Großes: Es wertet die Daten aus der größten Längsschnittstudie zur Entwicklung des Erwachsenenalters (Harvard Study of Adult Development) aus.

Für mich als Psychologin und Wissenschaftlerin ein Schatz. Denn die Erkenntnisse basieren auf Daten, die von ein- und denselben Menschen (über 700 Originalteilnehmer) systematisch über 80 Jahre erhoben und ausgewertet wurden. Und das Ergebnis: Es sind die guten Beziehungen, die uns glücklich und gesund alt werden lassen.

Jeannette liest "The Good Life"

“Warm, connected relationships protect against the slings and arrows of life and of getting old.”

Robert Waldinger & Marc Schulz in The Good Life

Dabei kommt es nicht auf die Anzahl der Beziehungen an, sondern auf die Qualität. Hätten Sie eine Antwort auf die Frage: "Wen würden Sie mitten in der Nacht anrufen, wenn Sie krank krank oder Angst haben?" (eine Originalfrage aus der Studie). Wenn Sie auch nur eine einzige Person nennen können, dann schützt Sie das gewissermaßen - psychisch und physisch.

Gute Beziehungen als Schutzschild

Die Erkenntnis, dass uns warme, tiefe Beziehungen glücklich machen, ist vielleicht wenig überraschend. Aber die Erkenntnis - basierend auf Tausenden von Messungen von subjektivem Wohlbefinden, medizinischen Daten aus Krankenakten und ärztlichen Untersuchungen im Rahmen der Studie über Hunderte von Erwachsenenleben hinweg - dass diese Beziehungen uns auch körperlich gesund erhalten und für ein langes Leben sorgen, ist durchaus eine kleine Revolution. Denn sie zeigt, dass soziale Verbundenheit nicht nur ein Frage des seelischen Wohlbefindens ist, sondern dass Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen die Gesundheit Jahrzehnte später vorhersagen kann! Das gilt nämlich nicht nur für frühkindliche Erfahrungen, die uns im Erwachsenenleben prägen. Nein, das gilt auch noch viel später im Leben.

“The people who were the most satisfied in their relationships at th age of 50 were the healthiest (mentally and physically) at age 80.”

Robert Waldinger & Marc Schulz in The Good Life

Es ist nie zu spät!

Diese Erkenntnis, dass gute Beziehungen so lebensnotwendig sind, kommt zu einer Zeit, in der Einsamkeit auf dem Vormarsch ist, obwohl wir in einer scheinbar vernetzten Welt leben. Das Gute: Die Studie macht auch denen Mut, die gerade mit der Einsamkeit kämpfen.

“...your ways of being in the world are not set in stone. It's more like they are set in sand. (...) Nothing that has happend in your life precludes you from conncecting with others...”

Robert Waldinger & Marc Schulz in The Good Life

Der Blick auf die Gesamtheit der Studiendaten zeigt nämlich: Jeder kämpft irgendwann, kein Leben läuft glatt, auch wenn es manchmal von außen den Anschein hat, als wäre das bei den anderen so. In Wirklichkeit vergleichen wir uns - gerade in der Zeit von Instagram, Facebook & co - immer ungleich. Wir vergleichen unser inneres Selbst mit dem äußeren Selbst von anderen. Und das ist kein Vergleich auf Augenhöhe - und er tut uns nicht gut.

Die Studie zeigt, dass Menschen in jedem Alter und zu jeder Zeit bedeutsame Veränderungen in ihrem Leben initiieren können. Wir können auch noch mit 40, 50 und sogar mit 80 neue Beziehungen aufbauen, bestehende Beziehungen wieder interessanter machen oder stille Beziehungen von früher wiederbeleben!

Soziale Fitness

Beziehungen entstehen und erhalten sich nicht von allein. Beziehungen benötigen unsere Aufmerksamkeit. Wir müssen etwas dafür tun. Waldinger und Schulz nennen das: soziale Fitness. Hier einige Ideen aus dem Buch:

  • Seien Sie proaktiv, gehen Sie auf andere zu, bauen Sie sich Routinen auf!
  • (Wieder)Beleben Sie langjährige Beziehungen, indem Sie etwas Neues machen!
  • Suchen Sie Verbindungen zu anderen Menschen über gemeinsame Interessen!
  • Führen Sie lockere Gespräche!
  • Hören Sie auf, Ihr inneres mit dem äußeren Selbst von anderen zu vergleichen!
  • Praktizieren Sie Dankbarkeit!
  • Engagieren Sie sich ehrenamtlich!
  • Glück ist ansteckend!
  • Denken Sie daran: Es ist nie zu spät!

Mobbing, Ghosting, Konflikte & co.

Und noch etwas: Ja, soziale Beziehungen sind nicht nur der beste Schutz gegen die Widrigkeiten des Lebens. Sie können auch für das schlimmstse Leid in unserem Leben sorgen. Mobbing, Ghosting oder tiefe Konflikte machen uns nicht nur seelisch kaputt, sondern auch körperlich. Mittlerweise weiß man aus Studien, die mit Hilfe von Magnet-Ressonanz-Tomographen (MRT) durchgeführt wurden, dass Ausschluss aus sozialen Beziehungen das Schmerzzentrum im Gehirn "feuern" lässt. Daher ist es so wichtig, sich bei Mobbing, in Konflikten oder ähnlich schwer tragbaren Situationen Unterstützung zu holen. Jedes Investment in eine Konfliktklärung ist ein Investment in die eigene glückliche, gesunde Zukunft und ein langes Leben!

Mehr Einblicke in die Studie

Wenn Sie mehr über die Studie vom mittlerweile vierten Studienleiter, Robert Waldinger, selbst erfahren wollen, lohnt es sich, den TED-Talk (mit deutschen Untertiteln) anzuschauen: https://www.ted.com/talks/robert_waldinger_what_makes_a_good_life_lessons_from_the_longest_study_on_happiness?language=de. Er gehört zu meist gesehenen TED-Talks alle Zeiten und ist wirklich erfrischend und interessant anzuschauen.

Wussten Sie etwa, dass ein früherer US-Präsident zu den ersten Teilnehmern der Studie zählte? J. F. Kennedy. Zu Beginn der Studie 1938 wusste niemand, ob die jungen Menschen später erfolgreich sein würden oder nicht, ob Sie gesund alt werden würden oder früh, etwa im Krieg, sterben würden, ob Sie eine Alkoholsucht oder eine Depression entwickeln würden oder sich mit über 80 Jahren an ihren Enkelkindern erfreuen.

Tun Sie es!

Von Herzen wünsche ich Ihnen, die bis hierher gelesen haben, dass Sie Menschen um sich haben, mit denen Sie sich tief verbunden fühlen. Sollten Sie jedoch einsamer sind, als Sie sich das wünschen, dann wünsche ich Ihnen Mut und gebe Ihnen gern einen kleinen „Schubser“ (engl. nudge) mit auf den Weg: Machen Sie einen ganz kleinen ersten Schritt, am besten noch heute:

  • Rufen Sie z.B. einen Freund oder eine Freundin von früher an, auch wenn Sie schon lange keinen Kontakt hatten. Fragen Sie ihn oder sie, wie es ihm oder ihr geht. Einfach so. Sie werden staunen, was durch das Wählen einer Telefonnummer verändern kann.
  • Oder aber schreiben Sie heute Abend einfach einmal drei Dinge auf, für die Sie heute dankbar sind! Und machen Sie das auch morgen und übermorgen!

Buch: Robert Waldinger & Marc Schulz (2023). The Good Life: Lessons from the World's Logest Study on Happiness. Random House UK.

Foto: Antje Wolm

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© Jeannette Hemmecke